§ 19
Zurechnungszeit
(1) Zurechnungszeit ist die Zeit bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres, die bei der Berechnung einer Rente wegen Erwerbsminderung oder einer Rente wegen Todes hinzugerechnet wird.
(2) Die Zurechnungszeit beginnt
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bei einer Rente wegen Erwerbsminderung mit dem Eintritt der hierfür maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit,
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bei einer Witwenrente, Witwerrente und einer Waisenrente mit dem Tode des Versicherten.
(3) Wird eine Rente wegen Erwerbsminderung oder wegen Todes nur unter Berücksichtigung von § 13 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 oder Zeiten nach § 17 Abs. 1 Satz 2 geleistet, bleibt die Zurechnungszeit unberücksichtigt, soweit die gleiche Zeit bei einer vergleichbaren Leistung wegen Erwerbsminderung oder wegen Todes des Versicherten berücksichtigt wird.
(4) Hat der verstorbene Versicherte eine Altersrente bezogen, ist bei einer nachfolgenden Rente wegen Todes eine Zurechnungszeit nicht zu berücksichtigen.
Die Zurechnungszeit führt zu einer Erhöhung einer EM-, Witwen-, Witwer- oder Waisenrente, wenn der Versicherungsfall (Eintritt von EM bzw. Tod) vor Vollendung des 67. Lebensjahres des (verstorbenen) Versicherten eingetreten ist. Unerheblich ist, ob der Versicherte für den Fall seiner Erwerbsfähigkeit voraussichtlich bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres versichert gewesen wäre. Eine Zurechnungszeit ist - vorbehaltlich des Absatzes 3 - deshalb auch dann zu berücksichtigen, wenn der Versicherte bereits vor Eintritt der EM von der Versicherungspflicht befreit war oder sein Unternehmen bis unter die Mindestgröße verkleinert hatte.
Die Zurechnungszeit beginnt mit Eintritt des Versicherungsfalls (vgl. Absatz 2) und endet mit Ablauf des Monats, in dem das 67. Lebensjahr vollendet wird. Allerdings kommt dieses Alter nach § 92a ALG (i. d. F. vom 01.01.2019) erst schrittweise in Abhängigkeit vom Rentenbeginn oder vom Zeitpunkt des Todes des Versicherten ab 2019 zur Geltung.
Mit Inkrafttreten des EM-Leistungsverbesserungsgesetzes zum 01.01.2018 war bereits eine bis 2024 schrittweise Anhebung der Zurechnungszeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres beabsichtigt. Vor dem 01.01.2018 war als Zurechnungszeit nur die Zeit bis zur Vollendung des 62. Lebensjahres zu berücksichtigen. Durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz wurde mit Wirkung vom 01.07.2014 bereits der Zeitraum einer anzurechnenden Zurechnungszeit bis zum 62. Lebensjahr verlängert. Die Berücksichtigung einer Zurechnungszeit war vor diesem Zeitpunkt nur bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres möglich.
Bei Beginn einer EM-Rente vor dem 01.01.2004 oder im Falle des Eintritts des Todes vor Dezember 2003 richtete sich der Umfang der Zurechnungszeit nach § 92a ALG i. d. F. bis 30.06.2014.
Die Zurechnungszeit beginnt jedoch erst mit dem auf den Eintritt von EM oder Tod folgenden Monat, wenn der Monat davor bereits mit einer rentenrechtlichen Zeit i. S. v. § 23 Abs. 2 Satz 1 ALG belegt ist (vgl. Ausführungen zu Absatz 2).
Die Zurechnungszeit beginnt im Falle der Feststellung einer Rente wegen EM mit dem Eintritt von teilweiser oder voller EM (Nummer 1) oder im Falle der Gewährung einer Hinterbliebenenrente mit dem Tode des Versicherten (Nummer 2). Soweit der Monat, in dem die EM oder der Tod eingetreten ist, bereits mit einer rentenrechtlichen Zeit i. S. v. § 23 Abs. 2 Satz 1 ALG belegt ist, beginnt die Zurechnungszeit erst mit dem folgenden Monat. Nach dem Sinn und Zweck der Zurechnungszeit können bereits mit einer rentenrechtlichen Zeit (z. B. Beitragszeit) belegte Monate nicht nochmals mit einer Zurechnungszeit belegt werden; denn soweit eine ausreichende Rentenhöhe bereits durch tatsächlich zurückgelegte Beitragszeiten sichergestellt ist, fehlt die Rechtfertigung für eine nochmalige Berücksichtigung ein und derselben Zeit als rentenerhöhende Zeit.
Wurden nach dem Monat des Eintritts der Versicherungsfälle „teilweise bzw. volle Erwerbsminderung“ und „Tod“ vom Versicherten oder dessen Hinterbliebenen Beiträge weitergezahlt (z. B. falls das Unternehmen noch für einige Monate weiterbewirtschaftet wird), nehmen diese auf den Beginn der Zurechnungszeit keinen Einfluss, da sie erst nach Eintritt der jeweiligen Versicherungsfälle zurückgelegt wurden (siehe auch § 23 Abs. 2 Satz 3 ALG).
Falls im Anschluss an eine EM-Rente, bei der eine Zurechnungszeit berücksichtigt wurde, eine Rentenfeststellung zu erfolgen hat, kann die seither berücksichtigte Zurechnungszeit nur nach § 23 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ALG zugrunde gelegt werden. Trifft eine Rentenbezugszeit (§ 23 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ALG) mit einer Beitragszeit zusammen, verdrängt gemäß dem Grundsatz, dass ein Zeitraum grundsätzlich nur mit einer rentenrechtlich relevanten Zeit belegt werden kann, die „höherrangige“ Beitragszeit die für den gleichen Zeitraum vorliegende Rentenbezugszeit.
Die Vorschrift schließt die Berücksichtigung einer sich aus Absätzen 1 und 2 ergebenden Zurechnungszeit bei einer EM-Rente - § 13 ALG - oder Rente wegen Todes - §§ 14 bis 16 ALG - aus (vgl. zu dieser Problematik auch § 71 Abs. 4 SGB VI). Die Vorschrift verhindert aber nicht die Berücksichtigung einer Rentenbezugszeit i. S. v. § 23 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ALG, wenn z. B. nach dem Tod des EM-Rente beziehenden Versicherten Zeiten nach § 92 Abs. 1 ALG bei Feststellung einer Witwen-/Witwerrente wegen § 92 Abs. 6 ALG nicht zugrunde gelegt werden können und dadurch die fünfjährige Wartezeit der Witwen-/Witwerrente nur unter Hinzurechnung von Zeiten nach § 17 Abs. 1 Satz 2 ALG erfüllt wird; ausgeschlossen ist nur die sich ab dem Todestag ergebende Zurechnungszeit.
Der Ausschluss einer Zurechnungszeit nach dieser Vorschrift schlägt über § 23 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ALG auch bei einer Folgerente durch: Das dort grds. geforderte Zusammentreffen von EM-Rentenbezug und Zurechnungszeit liegt in den einschlägigen Fällen wegen § 19 Absatz 3 nicht vor.
Die rentenrechtliche Zeit „Zurechnungszeit“, eine beitragsfreie Zeit (und damit von der Solidargemeinschaft der Versicherten und z. T. auch über die jeweiligen Bundesmittel zur AdL und GRV zu finanzieren), soll in den jeweiligen Sicherungssystemen - bei gleichzeitigem Anspruch - nur einmal rentensteigernd berücksichtigt werden, wenn lediglich durch das Zugrundelegen von den in anderen Sicherungssystemen zurückgelegten Zeiten eine doppelte Anrechnung von zeitidentischen Zurechnungszeiten möglich wird.
Gleiche Zeit
Aus dem Begriff „...die gleiche Zeit...“ ist zu folgern, dass es sich um eine der Zurechnungszeit nach Zweck und Ausgestaltung vergleichbare Zeit in einem anderen Sicherungssystem handeln muss; die Bezeichnung als „Zurechnungszeit” ist unerheblich. Endet eine beim anderen Träger berücksichtigte Zurechnungszeit innerhalb des Kalendermonats, ist der gesamte Kalendermonat von einer Zurechnung bei der Alterskasse ausgeschlossen, da ein Kalendermonat, welcher nur zum Teil mit rentenrechtlichen Zeiten belegt ist, als voller Kalendermonat zählt.
Vergleichbare Leistung
Zu berücksichtigen sind Leistungen wegen
- verminderter Erwerbsfähigkeit oder
- Todes
in anderen Sicherungssystemen (z. B. GRV oder Beamtenversorgung). Vergleichbar sind jedoch nur solche Leistungen, die auf den gleichen Versicherungszeiten (zumindest mit-)beruhen (also: EM-Rente AdL und EM-Rente GRV oder Hinterbliebenenrente AdL und Hinterbliebenenrente GRV). Nicht einschlägig ist die Vorschrift daher, wenn z. B. der hinterbliebene Ehegatte eine EM-Rente der AdL unter Berücksichtigung der von ihm zurückgelegten GRV-Zeiten (§ 17 Abs. 1 Satz 2 ALG) und daneben eine Hinterbliebenenrente der GRV (§§ 46, 48 und 49 SGB VI) aus der Versicherung des verstorbenen Ehegatten bezieht.
Kausalität
Der Anspruch auf EM-Rente oder Rente wegen Todes muss von Zeiten,
- die den Fünfjahreszeitraum vor Eintritt der EM nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 ALG verlängern,
- die auf die Wartezeit nach § 17 Abs. 1 Satz 2 ALG (in anderen Sicherungssystemen zurückgelegte Zeiten) oder bei der Drei-in-Fünf-Belegung gemäß § 13 Abs. 4 Satz 2 ALG angerechnet werden können,
abhängig sein.
Ein ursächlicher Zusammenhang ist nur gegeben, wenn bei Hinwegdenken der Zeiten nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 bis 7, § 17 Abs. 1 Satz 2 (§ 13 Abs. 4 Satz 2) ALG ein Rentenspruch nicht bestünde.
Rechtsfolge
Das Wort „soweit“ stellt klar, dass nur der Teil der Zurechnungszeit nicht zu berücksichtigen ist, der mit einer vergleichbaren Zeit, die in einem anderen Sicherungssystem zugrunde gelegt wird, zeitlich kongruent ist.
Wird von einem Zeitraum nur ein Anteil in einem anderen Sicherungssystem berücksichtigt, schließt die Regelung auch nur diesen Teil aus.
- Beispiel 1:
- Geburtstag: 28.04.1961
- Eintritt von EM und Dienstunfähigkeit: 11.07.2004
- Zurechnungszeit nach § 13 Abs. 1 BeamtVG: vom 01.08.2004 bis 30.04.2021 zu zwei Dritteln
- Zurechnungszeit - AdL: vom 11.07.2004 bis 30.04.2021
- Da in der Beamtenversorgung zwei Drittel des Zeitraumes vom 01.08.2004 bis 30.04.2021 berücksichtigt werden, kann ein Drittel des deckungsgleichen Zeitraums vom 01.08.2004 bis 30.04.2021 zugrunde gelegt werden. Der Zeitraum umfasst 201 Kalendermonate, so dass 67 Kalendermonate (201 : 3) zu berücksichtigen sind. Dies ist nach § 47 ALG i. V. m. § 122 Abs. 3 SGB VI die Zeit vom 01.08.2004 bis 28.02.2010.
- Soweit der Monat Juli 2004 noch nicht mit einer Beitragszeit zur AdL belegt ist, kann dieser Monat, da eine zeitliche Kongruenz mit einer vergleichbaren Zeit nicht gegeben ist, ebenfalls berücksichtigt werden.
- Beispiel 2:
Wegen der Anrechnung der Zurechnungszeit in der GRV vom 25.01.2001 bis 30.11.2001 (11 KM) kann die in der AdL verbleibende Zurechnungszeit, die nicht zeitlich kongruent ist, angerechnet werden (01.12.2001 bis 30.04.2002 = 5 KM).
Steht die Anrechnung einer Zeit in einem anderen System im Ermessen der zuständigen Stelle, ist die Vorschrift vor einer tatsächlich erfolgten Berücksichtigung nicht anzuwenden.
Wird eine vergleichbare Zeit in einem anderen Sicherungssystem nach Bekanntgabe eines Bescheides über die Bewilligung einer EM- oder Hinterbliebenenrente berücksichtigt, ist der Sachverhaltsänderung nach § 48 SGB X Rechnung zu tragen. Regelmäßig kann der Bescheid nach §°48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werden.
Wegen einer evtl. Rückforderung kann ein Verrechnungsersuchen an den anderen Leistungsträger in Betracht kommen. Unter Aufgabe der an dieser Stelle bislang vertretenen Auffassung kann kein Erstattungsanspruch nach § 103 SGB X geltend gemacht werden, weil es dafür an der erforderlichen Wegfallregelung fehlt (vgl. BSG, 31.10.2012 - B 13 R 9/12 R). Diese ist weder in Absatz 3, noch sonst im ALG zu erkennen.
Ende der EM-Rente GRV
Auch bei einem Ende der Rente aus dem anderen Sicherungssystem bleibt es bei der ursprünglichen Entscheidung. D. h. auch nach einer Beendigung der Rentenzahlung der vergleichbaren Rente wird die von der Alterskasse gewährte Rente nicht neu festgestellt. Die Zurechnungszeit bleibt weiterhin, wie im Bewilligungsbescheid festgestellt, unberücksichtigt bzw. wenn bei der ursprünglichen Bewilligung die Zurechnungszeit zum Teil berücksichtigt wurde bleibt es bei der teilweisen Berücksichtigung.
Dies gilt unabhängig davon, ob es nach einem Ende der vergleichbaren Leistung zu einer Weitergewährung der Leistung kommt, die Rentenart „wechselt“ (z. B. in eine Regelaltersrente oder eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen) oder gar keine Leistung mehr gezahlt wird.
Diese Vorgehensweise ist schon deshalb geboten, da ansonsten in nahezu allen Fällen, in denen der § 19 Abs. 3 ALG angewendet wurde und wird, spätestens mit der Gewährung einer Regelaltersrente von der DRV eine Neuberechnung der von der Alterskasse gewährten Rente wegen EM erfolgen müsste. Dies hätte wiederum zur Folge, dass in diesen Fällen eine Regelaltersrente (ohne Rentenbezugszeiten) von der Alterskasse nicht gezahlt werden könnte, da diese dann geringer wäre, als die Rente wegen Erwerbsminderung mit – dann neu – Zurechnungszeiten (§ 27 Abs. 1 ALG).
Diese Auslegung beruht insbesondere auf der Verwendung des Wortes „soweit“ – ohne das Wort „solange“ – in § 19 Abs. 3 ALG, was darauf hindeutet, dass eben nicht auf die Dauer des Rentenbezuges abgestellt werden darf. Der Versicherte, der aus zwei Systemen eine Rente beziehen möchte und die Wartezeitvoraussetzungen bei der Alterskasse nur mit AdL-fremden Zeiten erfüllt, muss hinsichtlich der AdL-Leistung auf die Berücksichtigung einer Zurechnungszeit verzichten – und das auch dann noch, wenn von der DRV zu einem späteren Zeitpunkt eine andere Rente oder gar keine Rente mehr gewährt wird.
Absatz 4 wurde mit dem RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz vom 28.11.2018 mit Wirkung vom 01.01.2019 eingefügt.
Eine Zurechnungszeit kann ab 01.01.2019 bei einer Hinterbliebenenrente nicht mehr hinzugerechnet werden, soweit der Verstorbene eine Altersrente bezogen hat. Unerheblich ist hierbei, ob sich die Hinterbliebenenrente der Altersrente des Verstorbenen mittelbar oder unmittelbar anschließt.
Der angefügte Absatz 4 soll verhindern, dass Wertungswidersprüche zwischen einer Altersrente und einer folgenden Hinterbliebenenrente entstehen. Wurde bereits eine Altersrente bezogen, würde eine sich anschließende Rente wegen Todes im Ergebnis ihren Charakter als aus der Versichertenrente abgeleitete Rente verlieren, wenn eine Zurechnungszeit bei der Rente wegen Todes angerechnet würde.
Von der Einschränkung werden auch vorzeitige Altersrenten (§ 12 ALG) erfasst.
Die Regelung kommt allerdings nur zur Anwendung, wenn zuletzt vom Verstorbenen eine Altersrente bezogen wurde. Ein „Bezug“ einer Altersrente i. S. d. Vorschrift liegt auch dann vor, wenn diese wegen Hinzuverdienst (§ 27b ALG) nicht gezahlt wurde.
Wurde im Zeitpunkt des Todes eine Rente wegen Erwerbsminderung beansprucht, richtet sich eine eventuelle Zurechnungszeit nach § 92a Abs. 5 ALG ALG. Dies gilt auch dann, wenn dem Verstorbenen wegen § 27 Abs. 1 ALG zuletzt anstelle einer Altersrente eine Rente wegen Erwerbsminderung gezahlt wurde.