Arbeiten im Gleisbereich: Zurücktreten, bitte!
27.01.2025
Vegetationsarbeiten in und an Bahngleisen sind mit erheblichen Gefahren durch den Schienenverkehr verbunden. Die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) zeigt Unfallhergänge und Sicherheitsmaßnahmen auf.
Im Mai 2022 kletterte ein Beschäftigter auf einen Leitungsmast, um Brombeerranken zu entfernen. Dabei geriet er mit dem Hochentaster in die nicht freigeschaltete Oberleitung. Der Versicherte erlitt einen Stromschlag und schwerste Verbrennungen.
Einen Monat später geriet ein Arbeitnehmer bei Baumarbeiten im Seilklettertechnik-Verfahren mit einem nicht vollständig vom Stamm abgetrennten Ast auf die nicht freigeschaltete Oberleitung. Dabei erlitt er schwerste Verletzungen infolge elektrischer Körperdurchströmung.
Im Juni 2023 kam es zu einem tödlichen Unfall als ein Mitarbeiter bei Freischneidetätigkeiten von einem Zug erfasst wurde.
Neben den grundlegenden Gefahren und Belastungen im Arbeitsbereich der Vegetationspflege, die sich unter anderem aus dem Umgang mit Arbeitsmitteln wie Freischneider, Hochentaster oder Motorsäge ergeben, müssen insbesondere die Gefahren, die aus dem Bahnbetrieb heraus entstehen, berücksichtigt werden.
Zunächst liegt die Verantwortung für die Planung beim Auftraggeber. Im Rahmen der Vergabe entscheidet sich der Auftraggeber für einen geeigneten Auftragnehmer. Diese Vergabeentscheidung kann weitreichende Folgen haben. Sie bedarf auch einer sorgfältigen ergänzenden Sicherheitsüberwachung des beauftragten Unternehmens.
Der Auftragnehmer führt in der Phase der Planung eine Gefährdungsbeurteilung durch. Auf Grundlage dieser Gefährdungsbeurteilung werden von der für den Bahnbetrieb zuständigen Stelle (BzS) Maßnahmen festgelegt.
Stellt der Auftragnehmer in der Planung fest, dass keine Sicherungsmaßnahmen – wie zum Beispiel die Sperrung des Gleises oder die Freischaltung der Oberleitung – notwendig sind, werden von der BzS auch keine Sicherungsmaßnahmen eingeleitet. Das heißt, dass das ausführende Unternehmen hauptverantwortlich ist für mögliche einzuleitende Sicherungsmaßnahmen. Der Auftraggeber hat hier allerdings unterstützende Funktion bei der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung.
Gefährdungsbeurteilung
Die Gefährdungsbeurteilung muss unter anderem folgendes berücksichtigen:
- Unbeabsichtigtes Hineingeraten in den Gefahrenbereich sowie das Arbeiten im Gefahrenbereich bei der schnellwandernden Vegetationspflege.
Das unbeabsichtigte Hineingeraten wird in der DIN EN 16704-1 beschrieben: „Bei unbeabsichtigtem Hineingeraten in den Gefahrenraum (= Gleisbereich plus Gefahrenbereich nach Vorschrift 78) müssen Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden. Das individuelle menschliche Versagen muss berücksichtigt werden.“ - die Gefahrenbereiche bei Baumarbeiten
Der Gefahrenbereich ist in der DGUV-Vorschrift 78 definiert in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Züge. Bei einer Zuggeschwindigkeit von beispiels-weise 90 km/h beträgt der Gefahrenbereich 2,20 Meter, gerechnet von der Mitte des Gleises (Grafik 2). Werden die Pflegemaßnahmen bis zur Schotterkante ausgeführt befinden sich die Mitarbeiter entweder im Gefahrenbereich oder es ist ein unbeabsichtigtes Hineingeraten in den Gefahrenbereich möglich. Sicherungsmaßnahmen sind dann zwingend erforderlich. Zum „individuell menschlichen Versagen“ gehört auch die mangelnde Konzentration durch eintönige Tätigkeiten in Verbindung mit eingeschränkter Umfeldwahrnehmung durch Tragen von Gesichts- und Gehörschutz bei erhöhter Lärmimmission, zum Beispiel bei Freischneidetätigkeiten. Auch der lange Holm dieser Geräte erhöht das Risiko, in den Gefahrenbereich hineinzugeraten.
Baumarbeiten werden im Rahmen der Rückschnittzone ausgeführt. Gängig ist zum Beispiel der Bereich von sechs Metern bis zur Gleismitte und sechs Metern in der Höhe. Gemäß der Vorschrift für Sicherheit und Gesundheitsschutz (VSG 4.2) ist bei Baumpflegearbeiten der Gefahrenbereich definiert als Radius um die Schnittstelle. Der Radius umfasst die doppelte Astlänge, jedoch mindestens sechs Meter (Grafik1). Vorbeifahrende Züge dürfen sich nicht im Gefahrenbereich befinden. Hier sind zwingend Maßnahmen erforderlich. Auch die mögliche Notwendigkeit des Freischaltens der Oberleitungen ist in die Gefährdungsbeurteilung einzubeziehen.
Die Auswertung von Unfallstatistiken ergab eine Häufung von Unfällen im Bereich der Verkehrswege von und zur Arbeitsstelle. Dieser Bereich muss besonders Beachtung finden. Auch hier sind im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung Maßnahmen zu ergreifen.
Sicherungsmaßnahmen
Werden wie beschrieben vom Auftragnehmer Gefährdungen festgestellt, müssen Sicherungsmaßnahmen ergriffen werden. Dabei haben technische und organisatorische Maßnahmen eine höhere Wertigkeit als persönliche Maßnahmen.
Die BzS stellt die Sicherungsanweisungen auf. Die Sicherungsaufsicht des Bahnbetreibers oder eines von ihm beauftragten Unternehmens beaufsichtigt die Maßnahmen. Sind Sicherungsposten notwendig, werden diese durch die Sicherungsaufsicht eingewiesen. Dies sind Personen, die mit Sicherungsaufgaben betraut werden und die ihre Befähigung dazu nachgewiesen haben.
Auch ist eine Einweisung des beauftragten Unternehmers in die örtlichen Verhältnisse durch die Sicherungsaufsicht oder durch ein beauftragtes Unternehmen unerlässlich. Diese Einweisung wird dokumentiert. Der Verantwortliche des beauftragten Unternehmens wiederum unterweist seine Mitarbeiter in die auszuführenden Tätigkeiten und die notwendigen Sicherungsmaßnahmen.
Primär ist der Auftragnehmer für die Umsetzung der notwendigen Maßnahmen zur Arbeitssicherheit verantwortlich. Daneben verbleibt jedoch beim Auftraggeber die Pflicht zur ergänzenden Sicherheitsüberwachung.
Baumarbeiten
Bei Baumpflegearbeiten zum Erhalt des U-Profils in der Rückschnittzone (zum Beispiel sechs Meter von der Gleismitte) ist die Möglichkeit des Einsatzes von schienengebundenen Fahrzeugen oder Zwei-Wege-Fahrzeugen mit diversen Konturenschnittgeräten zu prüfen. Ist dies nicht möglich und werden die Pflegemaßnahmen von der Hubarbeitsbühne oder mit Seilklettertechnik durchgeführt, ist eine Gleissperrung in der Regel erforderlich, um den Gefahrenbereich nach der VSG 4.2 freizuhalten (Grafik 2). Zwar ist es möglich, durch zum Beispiel Rigging einzelne Äste kontrolliert abzulassen, aber es können durch falsch angewandte Techniken (beispielsweise zu gering dimensioniertes Bremsgerät) Äste in den Gleisbereich hineingeraten. Zudem können vor allem bei Bäumen mit hohem Totholzanteil Äste oder ganze Kronenteile brechen und in den Gleisbereich fallen – verursacht zum Beispiel durch hohe Schwingungsbelastung bei statischem Riggen.
Vor den Arbeiten im Bereich von Oberleitungen oder anderen unter Spannung stehenden Teilen sind durch die BzS zwingend Sicherungsmaßnahmen einzuleiten. Die Schutzabstände nach DIN VDE 0105 sind einzuhalten (Grafik 2).
Die Arbeit mit Hochentastern in der Nähe von nicht freigeschalteten Oberleitungen ist lebensgefährlich. Die Angaben der Hersteller in der Bedienungsanleitung sind zu berücksichtigen.
Schnellwandernde Vegetationspflege
Wird die schnellwandernde Vegetationspflege zum Beispiel mit Freischneidern durchgeführt, gibt es folgende mögliche Sicherungsmaßnahmen:
- Zunächst die Möglichkeit des Einsatzes von Schienenfahrzeuge, Zwei-Wege-Fahrzeugen und ferngesteuerten Mähgeräten prüfen.
Ist dies nicht möglich, kommen folgende Maßnahmen in Frage: - Sperrung des Gleises, zum Beispiel bei Arbeiten bis zur Schotterkante
- Ständig wirksame Sicherungsmaßnahme in Form einer Absperrung als technische Maßnahme, die Mitarbeiter daran hindert, in den Gefahrenbereich hineinzugeraten (DIN EN 16704-1). Diese Maßnahme einschließlich Montage und Demontage ist bei der schnellwandernden Vegetationspflege nach dem aktuellen Stand der Technik in der Praxis kaum umsetzbar.
- Ist der Arbeitsbereich vom Gefahrenbereich durch einen zusätzlichen Schutzstreifen von zwei Metern getrennt (Grafik 1), können die Arbeiten ohne zusätzliche Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden, wenn nicht andere ungünstige Rahmenbedingungen, wie Arbeiten an Böschungen, dagegensprechen. Die Trennung zum feldseitigen Arbeitsbereich ist sichtbar zu machen (Grafik 1). Eine rot-weiße Kette ist hier eine Möglichkeit. Dabei ist zu beachten, dass diese optische Trennung keine eigenständige Sicherungsmaßnahme nach den einschlägigen Vorschriften darstellt.
- Organisatorisch können Begrenzungen der Einsatzzeiten, Jobrotation oder auch das Einlegen kurzer Pausen zusätzlich für mehr Sicherheit sorgen.
- Ein individuelles Warnsystem wie das Zöllner Vegetationswarnsystem (ZVW) ist eine geeignete Schutzmaßnahme für die schnellwandernde feldseitige Vegetationspflege – zum Beispiel bei Arbeiten bis zur Schotterkante, wenn technische oder organisatorische Maßnahmen nicht möglich oder nicht gerechtfertigt sind. Die redundanten Warnsysteme werden in die vorhandene persönliche Schutzausrüstung (Helm) integriert. Nach Warnauslösung, zum Beispiel durch einen Außenposten beim Herannahen eines Zuges, empfangen die Mitarbeiter ein Signal.
Fällt die Entscheidung auf ein individuelles Warnsystem als Sicherungsmaßnahme bei der schnellwandernden Vegetationspflege, sind unter anderem Aspekte der Ergonomie, der Trageakzeptanz, der Kompatibilität mit vorhandener PSA sowie das menschliche Verhalten zu berücksichtigen. Das System muss zu jeder Zeit vollumfänglich funktionsfähig sein.
Verantwortung
Der Auftragnehmer, dessen Mitarbeiter die Arbeiten im und am Gleisbereich ausführen, trägt die Verantwortung, die Arbeit so zu gestalten, dass verbleibende Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit möglichst geringgehalten werden (§ 4 Arbeitsschutzgesetz).
Der Auftraggeber hat die Verantwortung, sich zu vergewissern, ob die Mitarbeiter des ausführenden Unternehmens bezüglich der Sicherungsmaßnahmen angemessene Anweisungen erhalten haben (§ 8 Arbeitsschutzgesetz).
Wenn sich alle Beteiligten ihrer Verantwortungsbereiche bewusst sind und dies zu einem gemeinsamen und konsequenten Handeln führt, können die Unfallzahlen und vor allem auch die schweren und tödlichen Unfälle reduziert werden.